„Mir geht es darum, gute Politik für alle zu machen“

Interview

Bei den Bundestagswahlen 2021 gewann Hakan Demir als Direktkandidat der SPD den Berliner Wahlkreis Neukölln. Im Interview spricht er über Hürden für politische Teilhabe, seine Arbeitsschwerpunkte wie etwa das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und erklärt, warum eine gute Politik für alle an Menschenrechten ausgerichtet sein muss.

Portrait von Hakan Demir

Hakan Demir wurde 1984 in der Türkei geboren und wuchs als Kind einer Arbeiterfamilie in Krefeld am Niederrhein auf. Er studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Betriebswirtschaftslehre in Trier. Als Journalist war er Mitherausgeber der Zeitschrift Migazin. Im Jahr 2010 trat er in die SPD ein und arbeitete für den Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby, dessen Berliner Büro er leitete. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann er als Direktkandidat seiner Partei den Berliner Wahlkreis Neukölln und ist seitdem Mitglied des Bundestags. Er ist Mitglied im Innenausschuss und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Vjollca Hajdari: Du bist seit einem Jahr Abgeordneter im Bundestag. Welche Bilanz ziehst du nach einem Jahr für dich selbst? Was hat sich seitdem in deinem Leben oder in deiner Arbeit geändert?

Hakan Demir: Natürlich hat man viel weniger Zeit für sich selbst. Als Parlamentarier ist man sehr viel unterwegs, im Wahlkreis oder auch hier in Berlin, weil man an Gesetzen arbeitet. Das war mir klar. Was mir jedoch nicht klar war, ist, dass die Ministerien im Prinzip die Abgeordneten nicht automatisch mitnehmen. Das heißt, man muss selbst auf die Ministerien zugehen und ihnen teilweise auch hinterherlaufen, um Informationen zu bekommen, weil einige Ministerien wohl eher sagen, die Abgeordneten sollen erst am Ende eines Prozesses beteiligt werden.

Mein Anspruch als junger Abgeordneter ist es aber, dass ich vorab informiert bin, dass ich schon bei der Erstellung des Gesetzesentwurfs oder des Eckpunktpapiers beteiligt bin. Ich möchte nicht erst am Ende, nachdem vielleicht schon alles gelaufen ist, einfach nur meine Hand heben. Schließlich sind wir Abgeordneten ja diejenigen, die gewählt wurden.

Hast du trotzdem das Gefühl, dass du in deiner Funktion als Abgeordneter bereits Einfluss üben konntest, zum Beispiel auf neue Gesetzesvorhaben?

Ja, natürlich. Beide Seiten lernen voneinander und ich habe schon das Gefühl, dass ich jetzt an dem einen oder anderen Gesetz beteiligt bin. Nicht nur, weil ich die Hand am Ende gehoben habe, sondern weil ich mich, also meine Punkte, davor schon eingebracht habe. Jetzt kommen noch weitere Themen dazu, die langsam starten: Staatsbürgerschaftsrecht, Fachkräfteeinwanderungsgesetz, Selbstbestimmungsgesetz. Das sind alles Sachen, die dieses Land prägen werden und es zu einem sehr modernen Land machen können. Das ist natürlich schön, wenn ich da als Berichterstatter maßgeblich beteiligt bin.

Sind das also die Themen, mit denen du dich gerade beschäftigst? Welche Themen sind es noch?

Ja, das sind meine Themen. Ich beschäftige mich mit der Seenotrettung, mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, mit der Mehrstaatigkeit, der doppelten Staatsbürgerschaft, aber auch mit den Rechten von trans Personen mit Blick auf das Transsexuellengesetz, das wir gemeinsam abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen wollen. Das sind alles Themen, die sehr spannend sind, aber auch nicht sofort in dem ersten Jahr direkt angepackt und vorangebracht werden können. Wir haben gerade viele Krisen, die andere Themen teilweise in den Hintergrund rücken, die vielleicht auch in den Medien weniger präsent sind.

Wir haben weiterhin mit Corona, also mit der Bewältigung der Pandemie zu tun. Wir haben eine Klimakrise, einen Angriffskrieg, den ich auch zu den Krisen zähle, ebenso die Energiekrise. Das sind vier große Krisen und dazu kommt eine Menschenrechtskrise, wenn wir uns anschauen, wie wir mit Geflüchteten umgehen. Allein im ersten Halbjahr 2022 sind wieder über Tausend Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Was möchtest du in der laufenden Legislaturperiode gern verändern?

Wenn wir etwa das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nehmen, da würde ich gern die Westbalkanregelung, die wir gerade haben, auch auf andere Länder ausweiten. Der Grundsatz wäre, dass auch Menschen wie mein Großvater, der im klassischen Sinne keine Berufsausbildung hatte und kein Akademiker war, auch heute nach Deutschland kommen könnten, um eine Chance für sich und für die Familie zu haben. Diese Menschen werden auch gebraucht. Wir brauchen also auch Hilfsarbeiter*innen. Das wäre zum Beispiel ein grundlegender Wechsel hinsichtlich unseres Einwanderungsgesetzes. Das ist eine Sache, für die ich mich gerade einsetze.

Was sind für dich die größten Herausforderungen hinsichtlich dieser Themen?

Eine große Herausforderung ist es zum einen immer zu schauen, wie die eigene Meinung eine Mehrheit gewinnt und auch die Koalitionspartner*innen von den Grünen und der FDP überzeugt. Das andere ist die Positionierung des BMI (Bundesministerium des Inneren) in Bezug auf diese Themen. Die größte politische Herausforderung ist: Wie schafft man es, dass eine politische Idee zu einem Gesetz wird? Und da gibt es viele, viele Einzelschritte. Man muss eine große Zahl von Menschen überzeugen und viel Druck machen, weil es nicht selbstverständlich ist, dass das, was ich gerade gesagt habe, eine Mehrheit findet.

Welche gesellschaftlichen Gruppen möchtest du im Bundestag repräsentieren?

Mein Anspruch ist es, dass ich das große Ganze sehe. Erstmal versuche ich, Politik für alle zu machen. Beispielsweise, wenn ich den Mindestlohn erhöhe, was ja jetzt im Oktober kommt, dann haben alle was davon. Ich muss an alle denken: An die Menschen ohne Migrationshintergrund, die Arabischstämmigen, an die Türkischstämmigen. Vielleicht profitiert von manchen Gesetzen die eine oder andere Gruppe mehr. Aber ich mache keine Politik und Gesetze, weil das einer Gruppe mehr passt, sondern ich mache es, weil es richtig ist.

Auch bei dem Thema Geflüchtete geht es mir darum, gute Politik für alle zu machen und ich glaube, es ist eine gute Politik für alle, wenn Deutschland das Recht auf Asyl gewährleistet und Menschen Raum und Schutz bietet, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Natürlich helfe ich der einen Person, die nach Deutschland geflüchtet ist. Aber meine Vorgehensweise ist von Menschenrechten aus gedacht. Ich denke nicht nur an die einzelnen Gruppen, sondern an die Grundsätze, die wir haben und die sind wichtig für das ganze Land. Wir müssen allen Menschen die Möglichkeit bieten, sich zu entfalten, ob trans Personen oder Familien, die von Abschiebung bedroht sind, obwohl sie hier leben und Teil der Gesellschaft geworden sind.

Was ist aus deiner Sicht das größte Hindernis für politische Teilhabe von benachteiligten Gruppen?

Oft werden diese Gruppen einfach nicht angesprochen. Ich sorge bei mir in Neukölln dafür, dass ich Sprechstunden vor Ort habe, nicht in meinem Büro, sowieso nicht im Bundestag – wer soll da hinkommen? Ich habe auch ein Wahlkreisbüro, da kommen auch viele Menschen hin, aber ich will auch zu den Orten gehen, wo genau die Menschen leben, die zum Beispiel noch stärker einkommensschwach sind. Das Glück ist, dass ich auch Türkisch und Englisch spreche.

Viele glauben zwar, dass sie die Menschen ansprechen, sie sagen: Ich habe doch meine Webseite, die können die Menschen lesen. Aber nein, du musst rausgehen, vor Ort sein! Ich habe zum Beispiel letztens ein Nachbarschaftstreffen gehabt – ultraprivat. 18 Häuser oder Wohnungen, die sich zusammengetroffen und mich eingeladen haben. Vertrauen aufbauen. Das ist ebenso mein Anspruch: Dass ich auch bei Kiezfesten dabei bin, dass die Leute wissen, dass ich ihr Bundestagsabgeordneter bin. Sie sollen wissen, dass sie eigentlich meine Chefinnen und Chefs sind. Sie sind ja die Bürger*innen von Neukölln, von Deutschland. Dann wissen sie, ok, das stimmt. Ich habe dieses und jenes Problem, ich frage ihn mal, was er lösen kann.

Was sind die größten Probleme, die die Leute ansprechen, wenn wir von Migrant*innen oder Geflüchteten reden?

Der Aufenthalt. Viele haben Angst, dass ihr Aufenthaltstitel nicht verlängert wird. Sie haben sich verliebt, haben im Ausland geheiratet, mit der Annahme, dass diese Person nach Deutschland kommen könnte. Das sind Liebesgeschichten von Menschen, die 56 sind, die das Glück hatten, in ihrem Alter jemanden kennenzulernen, den sie lieben können, aber sie sind getrennt, weil die Person gerade den Sprachkurs nicht schafft, weil es da vielleicht nicht die Sprachkurse gibt. Oder die Abschiebung von Familien, die beispielsweise nach Pakistan abgeschoben werden sollen, obwohl die Kinder keine andere Sprache als Deutsch sprechen. Oder Wohnungen – das ist ein grundsätzliches Problem für alle. Sie kommen zu mir, zum einen, weil ich eine Offenheit für alle Themen habe und zum anderen, weil ich Hakan heiße. Dann sagen die Leute, vielleicht versteht er uns anders.

Spielt deine eigene Einwanderungsgeschichte eine Rolle für deine politische Arbeit?

Klar, als Identifikation. Ich weiß von meinen Großeltern und meinen Eltern, wie das ist, als jemand hier zu sein, der sprachlos ist, wie man behandelt wird, wenn man die Sprache nicht sprechen kann. Das sind Erfahrungen, die ich aus meiner Familie kenne, sodass ich auch bei anderen sofort eine andere emotionale Verbindung und ein stärkeres Verständnis für ihre Sorgen habe. Aufgrund dieser Erfahrungen sage ich: Ich will das Fachkräfteeinwanderungsgesetz bearbeiten. Ich suche mir ja auch Themen aus, die mit mir etwas zu tun haben. Und ich bin sehr dankbar, dass Neukölln mir diese Chance gegeben hat – das ist nicht selbstverständlich. Ich bin die erste Person mit Migrationsgeschichte in Neukölln, die es auf dieser Ebene geschafft hat oder es schaffen durfte.

Neben der Herkunft der Eltern spielt auch die soziale Herkunft eine Rolle. Das ist die zweite Ebene bei mir, wo ich sage: Ich will auch Politik machen für die Menschen, die ähnlich wie ich aufgewachsen sind, die erstmal nicht so viel hatten. Auch das prägt meine Politik.

Hast du während deiner politischen Laufbahn Anfeindungen erlebt?

Ich habe Briefe bekommen. Während eines Wahlkampfes stand etwa in einem Brief: „Sehr geehrter Herr Demir, ich bin eine Bürgerin aus Neukölln. Sie sind kein Deutscher, ich kann Sie nicht wählen. Mit freundlichen Grüßen.“ Und der Name stand drauf. Eigentlich ein ganz freundlicher Brief vom Format her, aber natürlich ultrarassistisch. Trotzdem hat das mit mir nichts gemacht, weil ich in Neukölln 2000 Mal mehr positive Rückmeldungen bekommen habe. Ich habe mich auf die Menschen konzentriert, die mit mir respektvoll umgehen. Man erreicht so noch mehr Menschen.

Man muss natürlich immer schauen, ob es strafrechtlich relevant ist, ob es ein Hasskommentar ist. Dann würde ich es an die Polizei übergeben. Ansonsten lösche ich vieles und blocke die Personen, denn ich muss dem keinen Raum geben.

Wie gehst du mit problematischen Situationen um, die nicht im Netz, sondern vor Ort stattfinden?

Ich gehöre nicht zu den Personen, die sich schnell provozieren lassen. Ich habe beispielsweise mal jemanden im Wahlkreis kennengelernt, der direkt meinte: „Es gibt viele Asylanten hier, warum habe ich nicht so eine große Wohnung? Die kriegen doch alles.“ Ich habe ihm nicht direkt gesagt, dass seine Behauptungen falsch sind und dass es nicht „Asylanten“, sondern „Geflüchtete“ heißt. Stattdessen habe ich ihm erklärt, dass nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Geflüchteten, die er meint, sehr wenig Geld bekommen. Dass sie sehr lange in einer Unterkunft leben, die er nicht mit ihnen tauschen wollen würde, und dass viele von ihnen vor Krieg und Gewalt geflohen sind. Dann hat er kurz überlegt und gesagt: „Ich glaube, ich würde es auch so machen. Ich würde auch fliehen, wenn ich im Krieg wäre und ich finde das auch nicht so gut, dass die Europäer zum Beispiel Waffen liefern. Dann sollten wir uns nicht wundern, dass die Menschen nach Deutschland kommen“.

Wenn man nicht sofort dagegen knallt, gibt es oft Raum für Veränderungen, was nicht heißt, dass man nicht dazwischengeht. Ich habe ihm meine Perspektive erklärt, aber auf eine vernünftige und respektvolle Art und Weise.

Was hat dich darin bestärkt, in die Politik zu gehen?

Ich habe Philosophie studiert. Es klingt vielleicht kitschig, aber ich habe mir immer die Frage gestellt: Wie kann ich ein sinnvolles Leben führen? Es gibt verschiedene Wege, das zum Beispiel als Journalist*in oder als Pflegekraft zu tun. Ich habe mich für die Politik entschieden, weil ich immer das Gefühl hatte, man erreicht so mehr Menschen. Und ich dachte, wenn ich 80 oder 90 bin und zurückschaue, kann ich sagen: Das war ein sinnvolles oder ein bedeutendes Leben. Das ist das, was mich antreibt. Und das erreicht man, indem man Sinn in die Welt bringt und hier und da versucht, das Leben von Menschen um 180 Grad zu drehen.

Wenn ich eine Rückführung verhindern kann, dann bleibt diese Familie hier. Die Kinder können weiter auf das Gymnasium gehen, oder wenn ich eine vierköpfige Familie mit einem Kind mit Behinderung unterstütze, die 8 Jahre in einer Einzimmerwohnung in Neukölln gelebt hat. Diese Familie hat jetzt eine Dreizimmerwohnung. So habe ich durch die Kraft meines Mandates doch Sinn geschaffen. Ich habe natürlich nicht jeden Tag solche Erfahrungen, aber das gibt mir ein gutes Gefühl.

Hast du einen Rat für junge Menschen, die sich politisch engagieren möchten?

Sie sollen sich auf jeden Fall vernetzten. Es spielt keine Rolle, ob es ein Verein oder eine Partei ist. Sie sollen sich verbünden und unterschiedliche Perspektiven kennenlernen, denn man kriegt nichts alleine hin. Ich wusste nichts von Bafög, von der Friedrich-Ebert-Stiftung oder von der Heinrich-Böll-Stiftung.

Außerdem: hartnäckig bleiben. Es ist am Ende vielleicht nicht immer das Ziel, das man erreichen wollte, aber man ist auf jeden Fall weiter als vorher. Und man kann nicht immer erwarten, dass die anderen sich bewegen, sondern man muss selbst ein paar Schritte gehen. Natürlich müssen sich Parteien öffnen und auf Menschen zugehen, aber beide Seiten müssen aufeinander zugehen. Ich war ja bei dem Jugendkongress der ndo (neue deutsche organisationen). Es war super, da sind junge Menschen, sie sind vernetzt. Jetzt habe ich zum Beispiel ein Mentoringprogramm im Bundestag für Jugendliche, die ungefähr 16 Jahre alt sind. Ich habe mich und meine Arbeit geöffnet, aber die Menschen kommen auch zu mir.

Gibt es junge Menschen, die dich direkt kontaktieren, wenn sie sich für Politik interessieren?

Ja, die gibt es. Es sind meistens Leute, die aus Akademikerfamilien kommen. Ich möchte jedoch auch Leute ansprechen, die nicht aus Akademikerfamilien kommen, die nicht über diese Netzwerke verfügen oder den perfekten Lebenslauf haben. Deswegen gehe ich über die Lehrkräfte und sage: Liebe Lehrkräfte, ich möchte auch Menschen erreichen, die so wie ich aufgewachsen sind und die vielleicht sonst nie die Chance bekämen, im Bundestag ein Praktikum zu machen oder ein Mentoringprogramm zu durchlaufen. Diesen Menschen möchte ich eine Chance geben.

Vielen Dank!